Psychische Störungsformen

Wenn man den diversen Statistiken, die von verschiedenen Seiten (z.B. Statistisches Bundesamt, BKV, BPK u.a.) in Auftrag gegeben werden, Glauben schenken darf, dann haben wir seit den 80er Jahren eine fast stetig steigende Anzahl psychischer Krankheiten zu verzeichnen. Wir würden anhand der Zahlen sogar zu dem recht uncharmanten Begriff ‚Epidemie‘ zurückgreifen müssen, wäre das Feld psychischer Störungen nicht so breit gefächert.

 

Dass man psychische Störungen nicht ausschließlich dem Einzelnen zuschreiben darf, ist im Grunde seit Beginn der „wissenschaftlichen Psychotherapie“ bekannt. Es ist in akademischen Kreisen auch unumstritten, dass Störungen in jeder kulturellen Entwicklung aufkommen, denn Kultur bedeutet für den Einzelnen einerseits zwar immer einen stabilisierenden Faktor, denn sie stellt dem Einzelnen Rahmenbedingungen, Handlungsregeln, Entwicklungsmöglichkeiten usw. zur Verfügung, aber natürlich fordert die Kultur von dem Einzelnen auch etwas ab. Man kann eben nicht alles realisieren, was man begehrt. Kultur heißt auch nicht, dass Konkurrenzverhältnisse, Doppeldeutigkeiten, Machtunterschiede aus der Welt geschaffen werden. Kultur heißt nur: So und so geht man grundsätzlich damit um. Gerade in der heutigen Zeit scheint Kultur etwas zu sein, was diffus wird, uneindeutig. Wir haben Probleme damit, genau unterscheiden zu können was geht und was nicht geht. Zudem stehen wir in Zeiten großer Herausforderungen. Stichpunkte in dem Zusammenhang: Globalisierung, Digitalisierung, Arbeitsmarktkrise, Finanzkrisen uvm. Da sind viele Entwicklungen unserer Gesellschaft und unserer Kultur, die als gestört diagnostiziert werden könnten (wo sind Zwänge in Deutschland, EU, wo kommen Panikattacken auf, wo haben wir mit Depressionen zu rechnen?)

 

Und dennoch: Die Behandlung findet in der Regel bei dem Einzelnen statt, dem eine Krankheit agnosziert wird. Es wird angenommen, psychische Krankheiten beträfen in erster Linie Menschen, die eine (wie auch immer geartete) Prädisposition zu den entsprechenden Krankheiten hätten. Diese Menschen, so wird angenommen, litten darunter, dass sie mit den Forderungen, die sie an sich selber haben oder die von der Gesellschaft an sie herangetragen werden, nicht in adäquater Weise umzugehen wissen. Andererseits meint man, psychische Krankheiten würden nach Ereignissen, Schicksalsschlägen oder kurz Traumen in Erscheinung treten. Sie seien die Konsequenz einer sog. dysfunktionalen oder maladaptiven Umgangsform.

 

Sozialisationsforschung heißt nun Fragen zu stellen wie etwa:

  • Was hat eine Gesellschaft davon, Störungen am Einzelnen zu diagnostizieren und zu behandeln?
  • Welches Verhältnis entwickelt eine Gesellschaft zu ihren gestörten/störenden Mitgliedern?
  • Welche (gewollten, gewünschten, gehassten) Konsequenzen haben Störungen für die Mitglieder und ihre Entwicklung?
  • Wie werden Störungen in verschiedenen Systemen/Institutionen aufgegriffen und behandelt (z.B. in Schulen, Universitäten, Unternehmen, Vereinen, etc.)?
  • Welche Entwicklungsperspektiven und –grenzen ergeben sich daraus für die Gesellschaft und ihrer Mitglieder?

Publikation

Wirtz, Stefan (2013): Vorstellungen von psychischen Störungen und Psychotherapie. Eine empirische Untersuchung [Arbeitstitel]

 

El-Mafaalani, Aladin; Wirtz, Stefan (2011): Wie viel Psychologie steckt im Habitusbegriff? Pierre Bourdieu und die 'verstehende' Psychologie. In: Journal für Psychologie 1/2011.