Gender und Gleichstellung

Gleichberechtigung ist gesellschaftlich weitgehend realisiert, denn das deutsche Recht benachteiligt Frauen kaum noch. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Frauen beispielsweise nicht wehrpflichtig sind, aber Wehrdienst (auch an der Waffe) leisten dürfen, und dass sie in Bezug auf das Sorgerecht tendenziell privilegiert werden, zeigt eine rechtliche – oder anders: theoretische – positive Diskriminierung in weiten Bereichen. Dieser Erfolg ist maßgeblich durch die Frauenbewegung beeinflusst. So haben engagierte Frauen das Wahlrecht für Frauen, den Zugang zu höherer Bildung und die Auflösung der Abhängigkeit vom Ehemann im Familien- und Eherecht erreicht. Gleichstellung von Mann und Frau, also die reale Chancenverteilung zwischen den Geschlechtern, ist hingegen in wenigen Lebensbereichen verwirklicht. Das offenbart sich in dem 1994 eingefügten Zusatz in das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf Beseitigung bestehender Nachteile hin." Sowohl hinsichtlich der Höhe des Einkommens und der bekleideten beruflichen Positionen als auch im Hinblick auf die Gefahr, in armen bzw. prekären Verhältnissen zu leben, ist eine signifikante Ungleichstellung der Frauen zu konstatieren. Bildungssystem, Arbeitsmarkt und Sozialstaat machen einen Unterschied zwischen den Geschlechtern.

 

"Benachteiligung" ist ein äußerst vieldeutiger und vielseitig anwendbarer Begriff. Ab wann jemand als benachteiligt bezeichnet werden kann, ist in besonderem Maße von vorzunehmenden Definitionen abhängig. In Bezug auf Bildung kann Chancengleichheit (als Gegenteil von Chancenbenachteiligung) in zwei Grundmodellen kategorisiert werden (vgl. Geißler 2008). Erstens: Das Proporzmodell, wonach von Benachteiligung die Rede ist, wenn eine Gruppe (bspw. soziale Schicht, Geschlecht) anteilsmäßig auf allen hierarchischen Ebenen des Bildungssystems so vertreten ist wie in der Gesamtbevölkerung. Zweitens: Das meritokratische Modell, wonach – unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit – die individuellen Kompetenzen und Leistungen den Bildungsverlauf prägen. In Bezug auf das Bildungsniveau sind Frauen und Mädchen keineswegs mehr benachteiligt, im Gegenteil: Die benachteiligende Dimension "Geschlecht" scheint sich bezogen auf Bildungsabschlüsse in den letzten Jahren umzukehren, Frauen sind häufiger an Gymnasien und schließen es mit dem Abitur ab, verlassen die allgemein bildende Schule seltener ohne Schulabschluss, erreichen insgesamt höhere und besser bewertete Schulabschlüsse und weisen bei Kompetenztests wie PISA insgesamt bessere Ergebnisse auf (Blossfeld u.a. 2009). In der derzeitigen politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Bildungsverlierer treten Jungen ins Zentrum der Diskussion. Umso erklärungsbedürftiger ist der Umstand, dass die Benachteiligung von Frauen in Deutschland – trotz eines enormen Bildungsniveauanstiegs – weiter anhält und sich im internationalen Vergleich besonders markant darstellt, denn Frauen beziehen Einkommen, die im Vergleich zu jenen der Männer um 23 Prozent geringer sind. Im EU-15-Durchschnitt liegt dieser Gender Pay Gap bei gerade einmal bei 16 Prozent.



Publikation

El-Mafaalani, Aladin (2012): Gender Pay Gap und Hausfrauenehe. Geschlechterungleichheit in Wirtschaft und Politik. In: Politisches Lernen 3-4/2012.

 

El-Mafaalani, Aladin (2012): Ungleiche Karrierechancen. Zur Ungleichstellung der Frau in Beruf und Sozialstaat. In: Erziehungswissenschaft und Beruf [im Review].

 

El-Mafaalani, Aladin (2010): Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Die Ungleichstellung der Frauen in Beruf und Wohlfahrtsstaat überwinden. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 5/2010. [abstract]