Bildungs- und Sozialpolitik

Im Land der Dichter und Denker ist das Bildungssystem in die öffentliche Diskussion geraten. Seit dem PISA-Schock werden diffuse, teilweise aufgeregte Diskussionen geführt, an deren Ende üblicherweise "mehr Geld" und "bessere Lehrer" gefordert werden. Tatsächlich lassen sich aus PISA zwei grundlegende Botschaften formulieren. Ersten schneiden deutsche Schülerinnen und Schüler insgesamt (unter-) durchschnittlich ab, wodurch die Leistungsfähigkeit des Schulwesens in Frage steht. Und zweitens mangelt es im deutschen Bildungssystem sowohl an Chancen- als auch an Leistungsgerechtigkeit, wodurch sich eine tiefgreifende Legitimitätskrise begründen lässt. Insbesondere das Defizit an Bildungsgerechtigkeit bedarf eines Diskurses, in dem die tradierte Praxis der Auslese neu hinterfragt werden muss. Die Selektionsfunktion, die jedem Bildungssystem genuin ist, scheint in der deutschen Schule überbetont und unterreflektiert zu sein. Die Selektionslogik ersetzt in weiten Teilen Förderung und wird gleichzeitig semantisch als Förderung positioniert. In allen Bereichen sind Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus, insbesondere aus zugewanderten Familien, messbar benachteiligt, während privilegierte Gruppen im internationalen Leistungsvergleich keine messbaren Vorteile zu haben scheinen. Im föderalen Vergleich wird zudem sichtbar, dass diese Selektionsinstrumente - je nach bildungspolitischer Zielsetzung - in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt werden, was weitere, regionale Benachteiligungen zur Folge hat.


Kurzum: Das Bildungssystem scheint nicht generell unterfinanziert und die Lehrkräfte scheinen nicht weniger qualifiziert zu sein als in anderen Ländern. Vielmehr handelt es sich um systemische Problemstellungen, die nicht allein an einer Stellschraube (Geld, skandinavische Lehrer, Gesamtschulen oder gar [Quasi-] Marktbedingungen) zu beheben sind. Bildungsgerechtigkeit muss nicht zwingend mehr kosten, es bedarf allerdings einer weitreichenden Umstrukturierung (Einheitlichkeit, andere finanzielle Schwerpunktsetzungen, Anreizstrukturen, Autonomie und Kontrolle etc.).


Moderne Bildungspolitik - und hier setzt das Projekt an - muss vor diesem Hintergrund als präventive Sozialpolitik begriffen werden.

Publikation

El-Mafaalani, Aladin (2011): Bildungsungleichheit im Wohlfahrtsstaat. Statussicherung als kraftvolle Traditionslinie in der deutschen Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 3/2011.


El-Mafaalani, Aladin (2011): Sozialinvestition statt Kompensation. Warum der Sozialstaat nur als Bildungsrepublik zukunftsfähig bleibt. In: Gesellschaft Wirtschaft Politik 2/2011.

 

El-Mafaalani, Aladin (2011): Bildung hilft Migranten, Ignoranz nicht. In: Zeit Online, 30.09.2011. [online abrufbar]

 

El-Mafaalani, Aladin (2010): Sozialreformen in unsicheren Zeiten. Ein Kommentar zu Gunnar Heinsohn. In: Sozialmagazin 10/2010. [abstract]