Inklusion und Ungleichheitssensibilität

Bildung am Fließband

Wenn man die Kritik am Taylorismus zusammenfassen wollte, würden folgende Aspekte unweigerlich Berücksichtigung finden: detaillierte Anweisungen und zerlegte Aufgaben, die nur einen Weg zum Produkt ermöglichen; festgelegte Einwegkommunikation mit eng abgesteckten Inhalten; exakte Vorgabe von Ort und Zeit der Produktion; quantifizierte Zielvorgaben für den Einzelnen; Entfremdung des Gesamtziels von der Tätigkeit des Einzelnen. Diese Managementlogik, die auf effiziente Machbarkeit in der Massenindustrie und nicht auf Kreativität, Selbstorganisation oder Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet ist, lässt sich erstaunlich gut auf die Unterrichtsrealität und das Schulsystem übertragen: Es gibt einen Plan (Lehrplan), der den Input relativ genau vorgibt; dieser Input wird in einen 45-Minuten-Takt zerlegt (Unterricht); Lehrer/-innen stellen in diesem Zeitraum etliche (je nach Studie durchschnittlich 50 bis 80) Fragen, die sich die Schüler/-innen in der Regel nie gestellt haben (Unterrichtsform); es gibt verschiedene „Fließbänder“ für hochwertige, mittlere, einfache und niedere Qualität (Schulformen) und eine kontinuierliche Auslese bei Abweichungen von Toleranzgrenzen (Noten, Klassenwiederholungen und Schulformwechsel).

 

Während in der Vergangenheit fast alle Heranwachsenden – unabhängig von der Schulkarriere – in irgendeiner Form in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten, zeigt sich Bildungsarmut heute als zentrales Problem für Wirtschaft und Sozialstaat. Etwa 400.000 Jugendliche befinden sich jährlich weder im betrieblichen noch im schulischen Berufsausbildungssystem, sondern im sogenannten Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Dadurch entgehen den Sozialkassen Einnahmen und durch die verlängerte Schulzeit bzw. durch anderweitige Maßnahmen der beruflichen Benachteiligtenförderung entstehen Kosten. Damit ist die ökonomische Begründung für umfassende Teilhabe an Bildung umschrieben. Die normative Perspektive, die eine weit längere Tradition in Philosophie und Pädagogik aufweist, stellt Gerechtigkeitsaspekte und die Persönlichkeitsentwicklung in den Vordergrund. Beide Argumentationslinien laufen im Inklusionsbegriff zusammen: Inklusion bedeutet so viel wie Einschluss oder Dazugehörigkeit. Aber worin besteht der Unterschied zum Integrationsbegriff?

 

Inklusion: Anders sein und dazugehören

Die Differenzen soll hier am Beispiel der Sozialintegration von Migranten verdeutlicht werden. So versteht bspw. Esser (2000) unter gesellschaftlicher Integration sowohl Inklusion bzw. Mehrfachintegration als auch Assimilation bzw. Einfachintegration (vgl. Tab. 1). Assimilation bedeutet, dass sich Zuwanderinnen und Zuwanderer an die Mehrheitsgesellschaft anpassen, womit gemeint ist, dass sie sich beispielsweise in Bezug auf Sprache, soziale Kontakte und ihre persönliche Identifikation dem Bestehenden angleichen. Bei dieser Form der Integration steht also die Teilhabe an der Aufnahmegesellschaft im Vordergrund und die ethnische Herkunft verliert im Laufe der Jahre an Bedeutung. Der Integrationstypus „Inklusion“ fokussiert hingegen eine Gleichwertigkeit von Herkunft und An- bzw. Zukunft. Die Zuwanderinnen und Zuwanderer sprechen beispielsweise beide Sprachen, haben soziale Netzwerke in beide Richtungen und identifizieren sich sowohl mit der Herkunftskultur als auch mit jener, in die sie hineinwachsen. Was vielfach kritisiert wird, ist die Tendenz, dass sich ethnische Gemeinden bilden, die gesellschaftlich exkludiert sind. Dieser Zustand, der unter dem Titel der „Parallelgesellschaft“ diskutiert wird, wird in dem Modell mit Separation bezeichnet.

 

Tabelle 1 Typen der Sozialintegration von Zuwanderern

 

Sozialintegration in ethnische Gemeinde

Ja

Nein

Sozialintegration in

Aufnahmegesellschaft

Ja

Inklusion als Mehrfachintegration (Plurale/multikulturelle Gesellschaft)

Assimilation als Einfachintegration

(Homogene Gesellschaft)

Nein

Separation als gesellschaftliche Exklusion

(Parallelgesellschaft)

Marginalisierung als Mehrfachexklusion

(Vereinzelung)

In Anlehnung an Esser 2000, S. 287

 

Der wesentliche Unterschied besteht also darin, inwieweit die individuellen Merkmale und die gesellschaftlichen Mehrheitsvorstellungen in Verbindung gebracht werden. Wobei entscheidend ist, ob eine „starke“ Normalitätsannahme zugrunde gelegt wird oder nicht. Unter sozialer Öffnung und Integration hat man sehr lange verstanden, dass sich die Normalitätsannahmen in Organisationen und Institutionen nicht verändern müssen (oder dürfen?) und nach dem Motto „was nicht passt, wird passend gemacht“ assimiliert und homogenisiert wird. Seitdem allgemein nachvollzogen wird, dass dieses Vorgehen nicht die erhofften Resultate bringt, gewinnt der Inklusionsbegriff an Aufmerksamkeit. Inklusion – und darin liegt tatsächlich ein beachtenswerter Unterschied – bedeutet also immer, dass auch Normalitätsvorstellung neu geordnet werden müssen. In diesem leicht gesagten Satz steckt eine enorme Herausforderung. Andersartigkeit und Vielfalt gilt es nicht nur zu dulden, sondern als Bestandteil des Systems anzuerkennen. Angesichts der stark normierenden und selektierenden Strukturen im Bildungssystem ist dies eine große Herausforderung.



Publikation

El-Mafaalani, Aladin (2012): (Wie) lässt sich Chancengleichheit steuern? Zur Unwahrscheinlichkeit ungleichheitssensibler Schulpraxis. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010. Wiesbaden. [Erscheint im Herbst 2012]

 

El-Mafaalani, Aladin (2011): Ungleiches ungleich behandeln! Inklusion bedeutet Umdenken. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 2/2011.

 

El-Mafaalani, Aladin (2009): Heterogenität als Potenzial nutzen. Möglichkeiten individueller Förderung in der vollzeitschulischen beruflichen Bildung. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 1/2009.[online download]